LULLY: ARMIDE

Gedanken über Robert Carsens postmoderne Inszenierung am Théâtre des Champs-Elysées, 2008.

Hintergrund: Der italienische Komponist Jean-Baptiste Lully (1632-1687) schrieb 1686 für den absolutistischen französischen König Ludwig IX (1638-1715) seine Oper ARMIDE, Libretto stammt von Philippe Quinault (1635-1688). Die Vorlage für Lullys fünf Akte umfassendes Werk ist Toquato Tassos (1544-1595) Geschichte DAS BEFREITE JERUSALEM, die sich auch in Händels Oper Rinaldo findet: Die Zauberin zieht mittels Magie den Kreuzritter Rinaldo in ihren Bann und hält ihn auf ihrer Insel fest.
Es gibt unzählige ausführliche Rezensionen zu Lullys Werk. Auf die Handlung muß hier wirklich nicht eingegangen werden. Ich möchte mich auf Eindrücke davon beschränken, was der kanadische Regisseur Robert Carsen (geboren 1955) mit seiner Inszenierung auf die Pariser Bühne gebracht hat.

Die erste überraschung ist gleich der Beginn. Der gesamte Prolog von Lullys Oper erschöpft sich bekanntlich in einer obligatorischen Huldigung des Königs. Robert Carsen installiert eine Projektionsfläche vor den Prospekt. Zwei Reiseführerinnen zeigen erst Fotos von Ludwig IX, dann wird ein Film gespielt, in dem eine Touristengruppe von den gleichen Damen durch die Räumlichkeiten des Palastes in Versailles geführt werden. Die Touristen absolvieren von ihrer Begeisterung getragen zahlreiche Tanzeinlagen im Inneren und auch in den königlichen Gärten, die Choreografie von Jean-Claude Galotta ist absurd-komisch, unkonventionell aber dann doch mitreissend. Einer der Gäste probiert unbemerkt das königliche Bett aus und sein Einschlafen in selbigem ist wiederum die Rahmenhandlung der Oper: Der Tourist (Der berühmte Tenor Paul Agnew) erträumt die nachfolgende Handlung der vollen fünf Akte mit sich selbst als Renaud.
Die Projektion ist zu Ende und auf der kühlen Bühne sehen wir ein Bett und davor ein halbhohes Geländer. Beides ist offensichtlich angelehnt an das Schlafzimmer des Sonnenkönigs. Die gesamte Ausstattung ist aber schmucklos und sogar grau-farblos. Farbe wird geschaffen durch die Beleuchtung von Robert Carsen und Peter Van Praet. In goldenes Licht getaucht entsteht dann tatsächlich der Eindruck eines königliches Gemachs. Erstaunlich. Vielleicht ist weniger doch manchmal mehr?
Zauberin Armide wird in höchst diabolischer Mimik von Stéphanie d'Oustrac dargestellt. Kostümbildner Gideon Davey führt mit ihr die Farbe rot in Form eines dünnen Trägerkleides ein und erzeugt damit einen enormen Kontrast zu allen anderem in grau gehaltenem: Schauspieler, Bühnenbild, Requisiten. Bezeichnend ist, daß sie Signalfarbe und sogar Kleid im Laufe des Stückes zeitweise auf ihren Hofstaat überträgt (Männer wie Frauen allesamt in rotem Trägerkleid!) bis sie dann, zeitgleich mit Renauds Entscheidung gegen die der Leidenschaft verfallene Armide, plötzlich in grau erscheint, während nun Renaud, der sich für (aufgrund der Kürzung Carsens ohne Hilfe von dänischem Ritter und Ubalde) die Fortsetzung seiner Ruhmestaten (Kreuzritter?) entschieden hat, nun rot trägt.
Was könnte die Farbe rot versinnbildlichen? Macht oder Leidenschaft? Wofür steht rot als Symbol? Doch es ist nicht das einzige Symbolfrage in Carsens Inszenierung: Die andere ist das Licht. Das Licht tritt nicht nur das als das die an sich farblose Kulisse belebende Element auf, sondern auch als Entsprechung zu einer Waffe: Ubalde und der dänische Ritter (Andrew Tortise) bahnen sich im vierten Akt ihren Weg zu Renaud. Dabei müssen sie zwei Dämonen widerstehen. Es handelt sich um eine nackte Tänzerin, die versucht, beide mit ihren Reizen zu betören und so um den Verstand und die Fortführung ihres Plans zu bringen. Doch dabei hat sie nicht mit den in (Licht-)schwertmanier gehaltenen Scheinwerfern gerechnet, die die beiden als einzige Waffe mitgebracht haben. Das Licht der Lampen vermag erst den dänischen Ritter und dann Ubalde aus ihrer beginnenden Verzauberung zu erretten.
Den eher unaufdringlich-historischen aber bis ins Detail sensibel abgestimmten Sound liefern William Christie (geboren 1944) mit seinem auf tradionelle Aufführungspraxis spezialisierten Ensemble LES ARTS FLORISSANTS (gegründet 1979).

Mag man nun Gefallen an modernen Inszenierungen finden oder nicht. Christie und sein Ensemble schaffen in Carsens Inszenierung ein Gesamtkunstwerk, das wahrscheinlich nicht jedem gefallen wird, zweifelos aber beeindrucken kann. Wer keine Zeitmaschine hat, um ins Jahr zurückzureisen und sich die Produktion anzusehen, der sei hier auf die 2011 erschiene DVD verwiesen.

Von Jeromin Fest.