Der Totale Markt.

Gedanken zu Carl Amerys Global Exit (München, 2002)

Der totale Markt als neue Reichsreligion. Der vermeintlich säkularisierte Westen im Dienste der gefährlichsten aller Religionen? Eine ungewöhnliche wie interessanter Darlegung der modernen Welt, geschrieben vom verstorbenen Umweltaktivisten Carl Amery (1922-2005).
Die westliche Welt ist modern. Beeinflusst aber aufgeklärt, mehr oder weniger traditionell aber eben säkularisiert, mit einem Wort, modern. Und wer die zehn Gebote gut heißt und sie mehr oder weniger als Leit-Ethik versteht, tut dies wohl weniger, weil er religiös ist und seine Religion dies fordert, sondern wohl eher, weil es höchst sinnvolle bewährte Regeln sind, die niemandem schaden und allen nützen.
Die westliche Welt ist tolerant. Sie läßt andere Gedanken und überhaupt andere Religionen zu. Nein, sie verfolgt niemanden, der anders denkt! Oder besser: Nicht mehr! Mit dumpfen Grauen blickt sie zurück in jene Zeit der Kreuzzüge, blickt sie zurück in jene Zeit, in der um des Glaubens Willen gemordet wurde. Aber das ist ja Vergangenheit und das mit dem Hitler, was war ja sowieso was ganz anderes.
Die westliche Welt empört sich, wenn heute irgendein Angehöriger einer anderen Weltreligion aus seiner überzeugung heraus tötet. Sie schüttelt den Kopf und bezeugt ihr Unverständnis. Das muss sie tun. Vor dem Hintergrund ihrer Informiertheit (Presse, Internet, etc) Vor dem Hintergrund ihrer Aufgeklärtheit. Vor dem Hintergrund ihrer von Religion losgelösten Vernunft. Vor dem Hintergrund eines Existenzform, die ohne Kulte auskommt.
Die westliche Welt - Kultur ohne Kulte? Oha, aber was ist denn mit Weihnachten und Ostern? Das ist doch Tradition! Und außerdem weiß doch jeder, dass diese Feste zwar christlich sind, letztendlich aber auf einem Kompromiss zwischen bereits vorhandenen germanischen Kulten und dem importieren christlichen Kulten beruhen. Der Westen ist ja modern. Der Westen ist eine Informationsgesellschaft. Der Westen hat Meinungsfreiheit und Wikipedia erfunden. Und wenn ich jetzt hier schreibe, dass die Ostereier und die Nordmanntanne nichts mit dem Christentum zu tun haben und Jesus höchstwahrscheinlich im Oktober geboren wurde, werde ich nicht verfolgt, nicht gesteinigt und auch nicht ausgepeitscht. Denn so ist nunmal der Westen und das ist gut so.
Der Westen ist also frei? Der Westen grenzt sich also dadurch ab, dass er eben nicht durch eine Religion regiert wird?
Aber was ist, wenn das alles gar nicht stimmt? Amery entwickelt in seinem Buch Global Exit die These, das wir längst einer neuen Religion huldigen. Einer Religion, die nicht vor Staatsgrenzen halt macht. Einer Religion, die bereits die ganze Welt mehr oder weniger beherrscht:
Der totale Markt. Es klingt zugegeben wie eine Verschwörungstheorie. Es ist Unbemerkt, riesig, alles beherrschend, jeden bestimmend und übermächtig. Nein, es sind die Außerirdischen und es sind auch nicht Illuminaten. Es ist der kapitalistische Welthandel, der totale Markt. Das Wirken immer größerer und immer mächtigerer Firmen, deren Namen im Einzelnen nicht genannt werden muß. (Dank der westlichen Informationsgesellschaft und ihrem Internet, das jedem einzelnen Bürger die Möglichkeit einräumt, Informationen zu allem einzuholen um sie dann in einer von unzähligen Bibliotheken beliebig zu vertiefen). Der totale Markt als Reichsreligion des Westens? Stop! Erstmal sollte etwas zu Verschwörungstheorien gesagt werden!
über Verschwörungstheorien. Für gewöhnlich halte ich es mit Verschwörungstheorien wie mit Bananen: überall und leicht zugänglich. Beinahe unbegrenztes Angebot. Im Detail verschieden, insgesamt ähnlich. Manche reifer, andere unerträglich unreif. Man konsumiert sie, hat kurz Freude daran, voilá! Beides sollte NICHT in Massen konsumiert werden, das eine, weil es die Umwelt belastet (Bananen werden importiert) und das andere, weil es Gehirne krank macht. Nachdem nun dafür Sorge getragen wurde, daß eine ausreichende kritische Distanz zum Thema Verschwörungstheorie vorhanden ist, zurück zum Ausgangspunkt:
Der totale Markt als gelebter Kult, als Reichsreligion. Als ich Amerys These, der totale Markt sei die neue Reichsreligion, das erste mal gelesen habe, war ich geneigt, es schnell als eine weitere Verschwörungstheorie abzuurteilen. Doch das wäre ein großes Unrecht am Autor. Amery prophezeit eine globale Entwicklung der nicht nachhaltigen Ausbeutung der Natur, eines immer rigoroseren Vorgehens der großen mächtigen Firmen, angefangen von Saatgutmonopolisten über Nahrungsmittelgiganten bis hin zu Weltwasservorratmonopolisten. Ermöglicht wird dies allerdings nur durch die Mitwirkung jedes Einzelnen. Amery ruft zum Widerstand auf und er sieht gerade in der christlichen Kirche das schlummernde Potential, den Widerstand zu formieren, so sie sich denn aus ihrem zunehmend weltfernen Dasein befreit und Teil nimmt an den Problemen der Gegenwart, vorallem, wie Amery betont, an der Erhaltung der Biosphäre, jenes Raums auf der Erde, der unser aller Zuhause ist und bleiben soll.
Die eine und die andere Sichtweise. Die Fragestellung, ob dieser sogenannte totale Markt wirklich als eine Religion dargestellt werden kann, bleibt offen und wird zweifelos weder auf nur die eine oder nur die andere Weise zufriedenstellend beantwortet werden können. Das mit dem Widerstand ist so eine Sache. Wie kann man nur Regenwald abholzen, fragt der Europäer und schüttelt verständnislos den Kopf. Sind die irre? Die Folgen sind doch jedem bekannt! Die Auswirkung sind im Detail vielleicht umstritten aber stehen im Großen und Ganzen doch völlig außer Frage! Und was ist mit jenem Mann, der sich selbst, vielleicht sogar Frau und Kinder ernähren will, jenem Mann, der kein Internet hat, jenem Mann, der kein soziales Netz unter sich hat? Er ist froh, einen Job zu haben. Warum man seine Existenz bedrohe, fragt er sich mal wieder, als eine Umweltorganisation (aus seiner Sicht:) ärger macht, die Maschinen stoppen müssen und ein halber Tag Lohn wegfällt. Dieser Mann soll seine Arbeit niederlegen und erklären, daß er nicht bereit sei, wegen der Klimaerwärmung und den Auswirkungen auf die Biosphäre weiterzuarbeiten? Kein Problem, sagt dann der Vorarbeiter und stellt jemand anderen ein, der händeringend einen Job sucht. Der Sachverhalt der Regenwaldzerstörung und ihren Auswirkungen bleibt als richtig bestehen, doch wie soll dieser Widerstand aussehen? Kann er vielleicht nur bei, dem Westen, stattfinden?
Mitwirkung und Auswirkung des Einzelnen am Beispiel Bio. Sicher, wir alle beeinflussen durch unser Kaufverhalten enorm die Industrie. Kaufen wir alle ein Produkt nicht mehr, verschwindet es früher oder später aus den Regalen. Kaufen wir alle Bio-Produkte, wird das Angebot dieser Ware so lange steigen, bis alle, die Bio kaufen wollen, auch Bio kaufen können. Die Frage ist nur, ist das Bio, was wir dann kaufen immer noch das Bio, welches wir zuvor gekauft haben? Ist es nicht gerade die westliche Welt gewesen, die das Optimieren von Herstellungsprozessen zur Blüte gebracht hat? Und was bedeutet Optimieren? Die einen Optimierungen machen das Produkt billiger, zB weil Maschinen Leute ersetzen, die anderen Optimierungen sind Kompromisse zwischen dem Preis und der Qualität. Als Bio aufkam, war es ein Angebot für eine kleine idealistische Zielgruppe. Gut aber teuer. Heute hat Bio längst seinen Platz im Discounter. Und wenn Bio strengere Regeln beim Einsatz von Pestiziden vorgibt: Gut, die Chemikalie XYZ wird weggelassen, von ABC darf nur so und so viel verwendet werden. Das reicht nicht? Kein Problem! Dann wird eben noch von dem Mittel DEF was drauf gespritzt. Diese Darstellung ist absichtlich total überspitzt. Mir erscheint Bio als eine richtige Entwicklung in eine richtige Richtung. Man sollte sich nur darüber im Klaren sein, was große Nachfrage nach bezahlbarem Angebot in der Konsequenz bedeutet. Was erwarten wir denn, wenn wir alle Bio haben wollen. Ein kleines Gemüsebeet mitten im Gebirge und eine nette Oma, die mit grünen Gummistiefeln und einer Gießkanne auf und ab geht? Würde so alles Bio hergestellt werden, wäre das unvorstellbar teuer, nein, es wäre nicht durchführbar bei so vielen Menschen. So viele Menschen und es werden jeden Tag mehr. Und gerade die wachsende Weltbevölkerung bestätigt das zum Teil abartige und zum Teil sinnvolle Vorgehen der Weltwirtschaft. Eine von vielen Antworten auf die stetig wachsende Nahrungsnachfrage ist C4 Reis (Reis, der durch genetische Veränderung weniger Wasser braucht und schneller wächst). Wer Großproduktion und industrielle Optimierung so weit wie möglich vermeiden will, wird gezwungen sein, in Reformhäusern, in Bio-Supermärkten, aus der Region und von kleinen Unternehmen einzukaufen und falls vorhanden und falls Zeit, im eigenen Garten anbauen (hier wären dann grüne Gummistiefel usw möglich). Die Frage ist, wieviele von uns können sich leisten, alle Produkte so zu beziehen? Die wenigsten!

Fazit: Die Entwicklung der Weltwirtschaft anzuprangern, ist in meinen Augen berechtigt. Mir würde jedoch ein differenzierter Umgang damit besser gefallen. Das Vorgehen der globalen Großkonzerne ist aus der Sicht der einen existenzbedrohend und aus der Sicht der anderen eine Mischung aus fragwürdig und notwendig. Beide Sichtweisen haben ihre Berechtigung. (Eine kritikfrei positive Sichtweise ist vor den Fakten wohl nicht haltbar) Welche Handlungen notwendig und sinnvoll, welche fragwürdig aber notwendig und welche nun indiskutabel und unnötig sind, das würde nicht nur ich sehr gerne erfahren. Wer in der Lage ist, dagegen aufzugebehren, ist eine andere Frage. Beeindruckend fand ich dennoch die Informationsdichte des Buches und Amerys Versuch (sei er nun gelungen oder nicht), das Weltgeschehen auf einen Nenner zu bringen. Bei Gobal Exit handelt es sich ohne Frage um ein sehr interessantes und aufwühlendes Buch. Wenn es so wie bei mir als ein weiterer Beitrag zur Entwicklung eines Bewußtseins agiert, beim Einkauf mitzudenken und je nach eigenen Möglichkeiten mehr oder weniger viele bessere Produkte einzukaufen, dann hat es zu etwas Gutem beigetragen.

Von Jeromin Fest.